3. November 2003
Homo homini lupus[1]
von Marco Feiten
Die Geschichte der Menschheit ist – wenn man den Blickwinkel darauf
konzentriert – eine Aneinanderreihung von Krieg und Zerstörung. Laut dem
Historiker Will Durant gab es in den letzten 3.421 Jahren der aufgezeichneten
Weltgeschichte nur 268 Jahre ohne einen Krieg auf der Welt. Nach jedem Krieg
fängt der Mensch von vorne an, stellt er sich Fragen wie: Ist der Mensch von
Natur aus schlecht und böse?[2]
Wie konnte es so weit kommen?
Als Ursache für Krieg würde man vermutlich spontan den Kampf um Ressourcen vermuten, doch Ausgrabungen im Oaxaca-Tal in Mexico legen nahe, dass der Krieg mit dem Aufbau permanenter Siedlungen entsteht, die ihre Bewohner mit reichlichen Ressourcen versorgen und damit bewaffnete Auseinandersetzungen erst ermöglichen. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Anthropologen Kent V. Flannery und Joyce Marcus von der University of Michigan, die kürzlich in den „Proceedings of National Academy of Sciences“ veröffentlicht wurde. Die Forschung von Flannery und Marcus geht auf Erkenntnisse von Raymond C. Kelly zurück, der vor drei Jahren die These aufstellte, dass Kriege vor allem in sesshaften Gesellschaften mit einer Unterteilung in Familienclans aufflammen. Tötet ein Mitglied einer Gruppe jemanden aus einer anderen Gruppe, wird dies als Aggression gegen die gesamte Gruppe gewertet und mit Blutrache vergolten. Unter Jägern und Sammlern, die über eine kleine Gruppe hinaus keine Organisation besitzen, machte Kelly dagegen die geringste Kriegshäufigkeit aus. Kelly beobachtete zudem, dass Kampfhandlungen oft in üppiger Umgebung stattfinden, die so reich an Ressourcen ist, dass ihre Bewohner sich Feindseligkeiten mit ihren Nachbarn leisten können. Demnach würde gelten: Je größer die Bevölkerung, je größer die Vorratskapazitäten und je verlässlicher der Überschuss, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Kriegen. Die Ursache von Kriegen ist demnach nicht oder nur selten in Ressourcenknappheit, sondern in Ressourcenreichtum und in organisierter Gruppenbildung begründet.
Bagdad in Flammen – die USA im „Krieg gegen den Terror“
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Doch damit ist weiterhin nicht geklärt, warum es zu Kriegen kommt, müsste es doch eigentlich gerade dann eher friedlich zugehen, wenn der Staat über ausreichende Ressourcen verfügt. Dazu möchte ich etwas weiter ausholen, jedoch vorab betonen, dass ich nachfolgend (zumindest meines Wissens nach) keine wissenschaftlich abgesicherte Theorie darstelle, sondern einen eigenen Erklärungsansatz formuliere:
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Mit der Gruppenbildung geht in der Regel eine Hierarchie-Bildung einher, das heißt es gibt in jeder Gruppe einen oder mehrere Anführer bzw. ein Entscheidungssystem. Unabhängig davon ob diese Führer durch physische Stärke, Wissen oder andere Fähigkeiten und Eigenschaften zu ihrer Position gelangen, beginnt in diesem Moment die Arbeitsteilung, die in der Wirtschaftslehre als großartige Errungenschaft angepriesen wird. Die Arbeitsteilung ist nur möglich, wenn es eine Art Organisationsstruktur gibt, die Spezialisierung ermöglicht. Die Gruppe gliedert sich zwangsläufig in produktive bzw. arbeitende Mitglieder und Organisatoren bzw. die Führung, wobei sich eine wechselseitige Abhängigkeit ergibt. Mit dem Grade der Organisation und Spezialisierung wird die Gruppe reicher werden, gleichzeitig jedoch auch die Macht der Führer wachsen, da sie die Entwicklungen steuern und die Ressourcen kontrollieren. Bürokratie entsteht, die wechselseitige Abhängigkeit am Anfang weicht einer Herrschaftsstruktur die durch Tradition und Kontrolle über die Gewalten begründet ist. Das Gemeinwesen wächst, das Herrschaftssystem dehnt sich aus. Ein Staat ist entstanden und die Mitglieder nehmen sich als Teil des Ganzen wahr – was außerhalb dessen liegt stellt eine potenzielle Bedrohung der Gemeinschaft dar. Das Herrschaftssystem als solches muss eine Art Militär schaffen, als Schutz gegen externe Gruppen wie auch zur Steuerung interner Machtausübung. Dr. Paul C. Martin vertritt die These, dass unser heutiges Zinssystem eine Folge des herrschaftlichen Abgabesystems ist, die durch das Waffenmonopol der Herrscher (Dr. Martin spricht von „Macht“) erreicht wird[3]. Das jeweilige Abgabenmittel ist „Geld“, für das ebenfalls ein staatliches Monopol besteht. Dr. Martin glaubt einen Determinismus entdeckt zu haben, da er davon überzeugt ist, dass dieses Herrschaftssystem zu einem Umsturz führen muss. Als Ursache sieht er das Problem der (Vor)Finanzierung staatlicher Macht, die regelmäßig aus den Ufern läuft, da Machterhaltungssysteme finanziert werden müssen und verschiedene Machtsysteme miteinander konkurrieren. Ohne die Theorie als solche an dieser Stelle näher behandeln zu können erscheint vor allem der letzte Aspekt sehr bedeutsam: Krieg kann nur zwischen zwei oder mehr Gruppen bzw. Staaten stattfinden und ergibt sich als Folge des Zusammenpralls konkurrierender Interessen oder ist Ergebnis innerstaatlicher Probleme. Letzteres können interne Machtkämpfe oder soziale Probleme sein. Eine Gruppe die zusammengehalten werden soll bedarf einer gemeinsamen Identität und somit etwas, das verbindet. Das können Religion, gemeinsame Herkunft oder gemeinsame Interessen sein. Eine Identität kann somit dadurch gestärkt werden, dass sie sich gegen etwas anderes absetzt, die Wahrnehmung auf das Gemeinsame gegen das andere konzentriert wird. Dazu kann auch ein kriegerischer Konflikt dienen: Ein Krieg schweißt zusammen und festigt – sofern der Krieg „siegreich“ beendet wird – die Herrschaftsstruktur und ermöglicht die Expansion des Staates, der Wiederaufbau führt zu wirtschaftlichem Aufschwung. Das gilt für die heutige Zeit in gleicher Weise wie zu Zeiten der Staatsbildung in Oaxaca. Als wesentliche Ursache für Kriege kann daher die Bildung von organisierten Gruppen gesehen werden, die sich durch Abgrenzung gegen andere definieren, das Entstehen eines kollektiven Gruppenbewusstseins das vom Herrschaftssystem gelenkt wird. Während für das Individuum noch Moral und Sitte vorhanden sind, ist der Staat eine „Hülle ohne moralische Grenzen“, ein kollektives Konstrukt das zwar aus einzelnen Individuen besteht und erst durch sie seine Macht erhält, doch sich mit der Zeit verselbständigt und die Individuen die es einst erschufen als System überlebt. Nachfolgende Generationen werden in den Staat hineingeboren, identifizieren sich womöglich auch mit dem Land und dem Staat, doch letztlich geht das Bewusstsein darüber, dass der Staat das eigene Konstrukt ist verloren. Die Individuen sehen sich nicht als jene die den Staat begründen, sondern als Gefangene in einem System. Der einzige Protest besteht in einer Nichtpartizipation (die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren ständig), was jedoch ein Selbstbetrug ist, da das System als solches diesen Protest nicht wahrnehmen kann und eher anfälliger wird für Aktionen, die nicht mehr durch die breite Masse mitgetragen würden. Eine Lösung der Kriegsproblematik kann nur in internationalen Einrichtungen begründet sein, die auf der Entwicklung eines globalen Bewusstseins basiert. Die Menschheit wird erst dann mit den Kriegen aufhören, wenn sich ihre Mitglieder nicht mehr oder nur noch marginal als Deutsche, US-Amerikaner, Christen oder Muslime, etc. wahrnehmen, sondern als Mitglieder der Spezies Mensch. Leider ist nicht abzusehen, wann sich ein solches Bewusstsein einstellen könnte, aber trotz aller Krisen und kommenden Kriege scheint mir die Welt auf dem richtigen Weg zu sein. Gerade wir Europäer, die wir kaum durch unsere Länder gehen können ohne nicht gleichzeitig über ein Schlachtfeld zu wandeln, haben große Fortschritte gemacht. Bleibt zu hoffen, dass ein weltwirtschaftlicher Umbruch in den kommenden Jahren nicht zu einer Wiederkehr des Staaten- oder Volksbewusstseins führt, was die Menschheit erneut um Jahrzehnte zurückwerfen könnte. Leider deutet sich genau dies an...
[1] Der Titel ist eine Anspielung auf die Theorie von Thomas Hobbes (1588-1679), der in seinem Werk „Leviathan“ Machtkonkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht als Hauptursachen von Konflikten proklamierte, wodurch der Mensch des Menschen Wolf („homo homini lupus“) sei. Um einen Krieg aller gegen alle („bellum omnium in omnes“) zu vermeiden müssen die Menschen den „Leviathan“ schaffen, den gemeinsamen machtvollen Staat, der für Frieden sorgt.
[2] Diese Frage ist als solche nicht zu beantworten, da es dazu einer universellen Definition der Begriffe ‚gut’ und ‚böse’ bedürfte – dabei ist es gerade der Mensch, der die Inhalte definiert, es ist der Mensch der überhaupt erst eine Unterscheidung macht, der das Weltgeschehen interpretiert. ‚Gut’ und ‚böse’ sind menschliche Konstrukte.
[3] Vgl. Martin, Dr. Paul C. („dottore“): „Das Zinssystem“, , 14.09.2003. Dr. Martin arbeitet meines Wissens an einem Buch, in dem er die entsprechende Theorie ausführlich darstellt.
Marco Feiten
03.11.2003
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